TEDTalk: „Eine Stadt für alle“ – ehemalige Freiwillige in Montreal erzählt….

2. November 2023

Wie stellst du dir einen Kanadier vor?

Bevor ich nach Montreal gegangen bin, hatte ich das Bild eines typischen Amis im Kopf: ein Lächeln im Gesicht, den Hockeyschläger in der Hand und das „Bonjour-hi, ça va?“ schon auf den Lippen. Aber Montreal ist mehr als das. Es ist womöglich eine der multikulturellsten Städte Kanadas, und auch hier gibt es nicht nur Englisch und Französisch, sondern auch viele Variationen einheimischer Sprachen. Wie so viele andere Regionen Kanadas kämpft Quebec mit dem Einheimischen-„Problem“ – wem gehört das Land wirklich? Wie gehen wir mit der grausamen Vergangenheit zwischen den First Nations und den Siedlern um, ohne noch mehr Schaden anzurichten? Inzwischen hat sich Einiges getan; die Regierung hat die Schuld erkannt und bemüht sich, Solidarität und Besserungswillen zu zeigen. Vor jeder öffentlichen Präsentation oder Versammlung wird eine „Land-Acknowledgement“ ausgesprochen – die Anerkenntnis, dass man sich auf indigenem Boden befindet und ihren Anspruch auf das Land respektiert und anerkennt.

Ich frage mich dabei immer: Was bringt das? Schön, wir wissen, was passiert ist, wir erkennen an, dass dies nicht unser Land ist, aber was tun wir? Wir predigen Reue und Besserung, und draußen erfrieren die obdachlosen Einheimischen auf den Straßen. Und nicht nur das. Ich habe bereits gesagt, dass Montreal multikulturell ist. Es wird Französisch gesprochen, Englisch, Mohawk. Montreal spricht Spanisch. Portugiesisch. Es spricht Ukrainisch und Arabisch. Kurdisch. Deutsch.

Viele Menschen ziehen in diese schöne Stadt, doch ist es eine perfekte Integration? Natürlich kommt es darauf an, in welchem Umfeld man sich befindet; ich kann mir gut vorstellen, dass bei Quebecern, die in ihrer frankophonen Elite-Bubble leben, mehr Rassismus gegenüber Migranten herrscht als anderswo. Ich selbst habe bei meiner Arbeit in einem Gemeinschaftszentrum täglich Kontakt mit anderen Kulturen gehabt und das als positiv empfunden. Es herrschte ein Kontext, der Austausch ermöglichte, ein Lachen in verschiedenen Sprachen, und das war schön.

Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie erklärte einmal in ihrem Ted Talk das Konzept der „Single Story“ – das einseitige Bild, das man sich durch mangelnde Informationen und Perspektiven von anderen zu machen droht. Sie erkennt darin eine Gefahr für das respektvolle Miteinander, denn die Single Story begrenzt ein Individuum auf nur einen Aspekt und ignoriert damit die menschliche Vielseitigkeit. Auch ich muss mich in diesem Zuge einer Single Story schuldig bekennen.

In meinem Freiwilligendienst habe ich vor allem an der Rezeption des Gemeinschaftszentrums gearbeitet und Leuten geholfen, sich für die Englisch- und Französischkurse einzuschreiben. Viele der Kundinnen und Kunden kamen als Geflüchtete und/oder aus lateinamerikanischen Ländern, um sich in Kanada ein neues Leben aufzubauen. Immer wieder habe ich vor zitternden Fingern und tränennassen Gesichtern gesessen und mir in Spanisch erklären lassen, sie bräuchten diesen Sprachkurs, wirklich, sie bräuchten ihn. Situationen wie diese haben mitunter dazu geführt, dass die Schüler und Schülerinnen bei mir in eine gewisse Opferrolle gerutscht sind. Ich fing an, in Gesprächen mit Freunden „die Mexikaner“ in Schutz zu nehmen, die es hier doch so schwer hatten, und hatte Mitleid mit den ukrainischen Frauen, die sich durch ihre Englischkurse quälten. Aber dann, in einer meiner Unterrichtsstunden, wurden mir die Augen geöffnet. Bei einem Gespräch mit meinen Schülern erfuhr ich, dass eine brasilianische Frau in meinem Englisch-Anfängerkurs von Beruf Tierärztin ist und auf YouTube erfolgreiche Videos auf Portugiesisch dazu macht, mit welchen Produkten man seinem Tier etwas Gutes tut. Ein anderer, ein Mann aus Mexiko, hat eine Frau, zwei Hunde und ein Haus in Longueuil (Nachbarschaft in Montreal) und war gerade dabei, sein eigenes Tattoo Studio aufzubauen.
Ein anderes Beispiel ist eine Gruppe junger Mexikaner, die sich darüber aufgeregt hat, wie die Gesetze und die Situation der lateinamerikanischen Immigranten in Montreal aussehen. Ich kann gar nicht genau wiedergeben, was gesagt wurde, denn sie hatten einen viel klareren Überblick über die politische Lage als ich. Und sie waren wütend. Was ich damit sagen will, ist das: ich habe gemerkt, diese Menschen sind keine Opfer. Dies hier sind vollständige, starke Individuen, die nicht weniger facettenreich sind, nur weil sie diese verschiedenen Seiten von sich selbst nicht auf Englisch kommunizieren können. Nur weil sie in Montreal als Geflüchtete ankommen, heißt es nicht, dass ihre ganze Identität aus „Flüchtling“ sein besteht. Als ich das erkannt habe, habe ich mich geschämt. Ich hatte eine Perspektive auf meine Schüler, eine Single Story, und habe ihnen nicht die Möglichkeit gegeben, sich selbst und auf Augenhöhe zu präsentieren. Jetzt weiß ich es besser.

Was heißt das alles jetzt? Es heißt, dass es wichtig ist, zu erkennen, dass viele der Dazugewanderten in Montreal nicht nur Mexikaner sind, nicht nur Portugiesen; sie sind, wie die Anglophonen und Frankophonen auch, Montrealer. Ich habe eine Freundin, dessen Familie ursprünglich aus Mexiko stammt, die aber nun schon seit fast fünfzehn Jahren in Kanada wohnt. Sie spricht fließend Spanisch, Englisch und Französisch, hat studiert, isst Tacos und Poutine beides gerne und weiß die typischen
Montreal-Ausleihräder zu bedienen, die es an jeder Straßenecke zu finden gibt. Sie ist nicht nur Immigrantin, sie gehört in diese Stadt wie jeder andere auch. Außerdem: Es ist immer mehr dahinter, als man denkt. Nur weil jemand etwas nicht auf meiner Sprache kommunizieren kann, heißt es nicht, dass diese Person nicht denkt oder fühlt, dass sie sich keine eigene, gebildete Meinung machen kann. Man darf sich nicht dazu verleiten lassen, sie als unvollständig zu betrachten oder einer Single Story zu glauben, denn das ist unfair.

Montreal ist multikulturell. Es ist eine Stadt für alle, und es ist an uns, uns gegenseitig als Mensch zu erkennen und uns willkommen zu heißen.

 

TED Talk geschrieben von Ronja Köninger (ehem. CD-Freiwillige)

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